STICKS interview
Issue #06 June 2001

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Sofern man im April nach Antwerpen fuhr und sich zu den Gedempte Zuiderdokken am Vlaamsekaai durchfragte, landete man in einem Antwerpener Stadtteil, der auf keinem normalen Stadtplan verzeichnet ist. Dieser Stadtteil existierte auch nur für einige Wochen, danach erlangte der Stadtplan dieser belgischen Stadt wieder seine reguläre Gültigkeit. Der Stadtteil, von dem hier die Rede ist, heißt Cirque du Soleil. Es ist der Name eines riesig großen Dorfes, welches mitten in der City aufgebaut wurde und seine Dorfbewohner zum großen Teil direkt mitbrachte. Dieses Dorf namens Cirque du Soleil verfügt über fast alles, was jedem üblichen Gemeinwesen eigen ist: es gibt eine eigene Schule, es gibt ein eigenes Fitness-Studio, es gibt ein eigenes Restaurant, es gibt einen eigenen Physiotherapeuten, es gibt ein eigenes Fernseh-Studio, es gibt einen eigenen Verhaltenskodex, es gibt eine hart arbeitende Dorfbevölkerung, und es gibt eine eigene Verwaltung, in der von der Post bis zur Krankenversicherung die komplette Bürokratie zu finden ist. Das einzige, was man in diesem Dorf eventuell vermissen könnte, ist der obligatorische Kirchturm. Anstelle dieses Kirchturms erhebt sich jedoch im Zentrum dieses Dorfes ein gigantisches weißes Zelt, welches den malerischen Namen "Grand Chapiteau" trägt. Dieses Zelt ist jeden Abend der Anziehungspunkt für etwa 2.500 Dorfbesucher, die aus allen Teilen der Stadt und aus weiter Ferne anreisen, um sich von den Dorfbewohnern in einzigartiger Weise verzaubern zu lassen. Die magische Formel dieser Verzauberung hei§t "Quidam", was zu deutsch etwa soviel bedeutet wie "ein namenloser Passant, eine einsame Figur, die an einer Straßenecke verweilt, eine vorbeieilende Person - eine Person, die inmitten der Menge in einer viel zu anonymen Gesellschaft lebt".

"Quidam" ist eins von insgesamt sieben Programmen, mit denen das kanadische Unternehmen Cirque du Soleil seit vielen Jahren weltweit schon zig Millionen von Menschen begeistert hat. Der Name steht für Akrobatik auf Weltklasse-Niveau, gepaart mit einem sentimentalen Hauch von Poesie, einer perfekt abgestimmten artistischen Mixtur für Auge, Ohr und Hirn. Während auf der Bühne Artisten aus zahlreichen Ländern ihr einzigartiges Können unter Beweis stellen, liefert die siebenküpfige Band vom hinteren Bühnenrand aus die akustische Kulisse für die atemraubenden Darbietungen unter dem grand chapiteau. Bei dieser Band handelt es sich keineswegs um eine drittklassige Zirkuskapelle, sondern ebenfalls um wahre Könner ihres Fachs. In der Schlagzeug-Kabine sitzt seit November 2000 bei jeder Vorstellung der aus Aachen stammende BJ, der 27 Jahre jung ist und mit bürgerlichem Namen Olivier B. J. Genten heißt. Daß die Kanadier sich bei der Besetzung des Jobs eines Rhythmusikers für einen Deutschen entschieden, ist schon ein wenig ungewöhnlich. Aber es paßt insofern ins Konzept, weil beim Cirque du Soleil eigentlich so gut wie nichts gewöhnlich ist. Bevor BJ sich an den Schminktisch setzte und sein Gesicht mit viel kosmetischem Geschick kunstvoll einfürbte, um kurz darauf im blauen "Quidam"-Kostüm die Show zu beginnen, erzählte er ausführlichst über seine Erfahrungen im Kreise der Cirque du Soleil-Bewohner, deren Dorf sich übrigens vom 31. Mai bis 17. Juni in Hamburg auf dem Heiligengeistfeld um das gro§e weiße Zelt schart. Und einen Besuch dieses Dörfchens können wir an dieser Stelle nur intensivst empfehlen.

STICKS: Erzähl doch mal, wie du zum Schlagzeuger der Band von Cirque du Soleil geworden bist.

BJ: Ich war 1996 mit dem Zirkus Flic-Flac auf Tour. Dort waren damals zwei Artisten vom Cirque du Soleil für eine Gastsaison verpflichtet. Als ich dann Flic Flac verließ, haben die mir einen Namen, eine Adresse und eine Telefonnummer gegeben, verbunden mit der dringenden Aufforderung, mich dort unbedingt mal zu melden. Das habe ich dann noch 1996 getan, sollte denen dann noch meinen Lebenslauf nebst untermalendem Tonmaterial einschicken. Darauf habe ich einen Standardbrief zurückbekommen, in dem etwa drin stand "vielen Dank, wir haben die Sachen erhalten, Du bist jetzt in unserer Kartei, ruf uns nicht mehr an, wir rufen dich an". Tja, und im September 2000 haben sie dann auch tatsächlich zurückgerufen!

STICKS: Hattest Du zu diesem Zeitpunkt denn überhaupt noch die Hoffnung, jemals wieder vom Cirque du Soleil zu hören?

BJ: Nein - ich hatte das nach etwa vier Jahren bereits komplett vergessen! Ich stand im Supermarkt in der Konservendosenabteilung, mein Handy klingelt, und eine leicht kratzige Stimme sagt "hello, this is Cirque du Soleil from Montreal". In diesem Moment habe ich erst mal zehn Sekunden lang gebraucht, um mich zu erinnern, was das denn jetzt überhaupt sein könnte.

STICKS: Und dann hat man dich per Telefon quasi blind gebucht?

BJ: Nun, man wollte erst einmal ein Update von meinem Lebenslauf haben, wollte mal sehen, was ich in der Zwischenzeit alles gemacht habe, welche Projekte bei mir gerade auf dem Terminplan stehen, und dann erfuhr ich, daß sie für eine aktuelle Europa-Tournee gerade mit einem kanadischen Drummer verhandeln, ich sei nicht wirklich interessant, es ginge im Grunde lediglich darum, meinen Lebenslauf in ihren Unterlagen zu aktualisieren. Diese Infos habe ich denen dann nach Montreal geschickt, und etwa eine Woche später klingelte bei mir wieder das Telefon. Ich war zu diesem Zeitpunkt für eine Produktion in Spanien, und Cirque du Soleil meinte, bei den Verhandlungen mit dem Kanadier sei wohl irgendwas nicht so ganz in Ordnung gegangen - ob ich denn mal schnell Zeit für ein Vorspiel hätte. Die berühmte Audition halt. Ich bin dann also Hals über Kopf aus Spanien zurück nach Frankfurt geflogen, wo "Quidam" damals gastierte, und habe dort vorgespielt. Man sagte mir, daß ich eine Woche später nochmal eine zweite Audition spielen solle, und während dieses zweiten Vorspiels ist mir dann eröffnet worden, daß man mich mehr als sofort und mehr als gerne haben möchte.

STICKS: Hast du lange überlegen müssen, wie deine Antwort aussieht?

BJ: Ich habe eigentlich nicht wirklich lange nachdenken müssen und geantwortet ãda muß ich mal überlegen, JA!!!" Jedenfalls ging es dann alles plötzlich Schlag auf Schlag, was damit zu tun hatte, daß der Vertrag meines Vorgängers endete, daß sie versucht hatten, als kanadisches Unternehmen erstmal einen kanadischen Drummer als Nachfolger zu bekommen. Das hat aus mir unbekannten Gründen irgendwie nicht funktioniert, und wie sie dann ausgerechnet auf mich gekommen sind Ð keine Ahnung. Einige Wochen später habe ich dann mal den Casting-Chef kennengelernt, und der erzählte mir dann, daß sich pro Jahr etwa 350 bis 400 Schlagzeuger beim Cirque du Soleil bewerben. Wenn ich mir also nur vor Augen halte, daß meine erste Bewerbung 1996 erfolgte, dann kann man leicht hochrechnen, daß sich bis September 2000 etwa tausendfünfhundert Drummer beworben haben müssen. Es erschließt sich mir absolut nicht, wieso sie bei einer solch prall gefüllten Schlagzeuger-Kartei dann ausgerechnet auf mich zurückgegriffen haben.

STICKS: Der frühe Vogel fängt den Wurm...

BJ: ...ja, irgendsowas wird es wohl gewesen sein. Bei der Audition selbst gab es dann nicht mehr soviel Konkurrenz. Man muß bedenken, daß man beim Cirque du Soleil nicht nur auf das rein spielerische Können gecheckt wird. Das Können auf seinem Instrument wird als gegeben vorausgesetzt, aber es geht hier noch um mehr. Einerseits ist es immer von Vorteil, auch noch mehrere Sprachen zu sprechen, weil man hier täglich mit vielen Menschen zu tun hat, die aus unterschiedlichsten Ländern kommen. Andererseits muß man zumindest mal nicht unsympathisch sein, um es vorsichtig zu formulieren. Das ist insofern ein wichtiges Kriterium, weil wir hier ja alle über Monate oder Jahre hinweg zusammen leben. Außerdem muß man willens und in der Lage sein, sich auf eine sehr lange Tournee einzulassen. Es dreht sich ja beim Cirque du Soleil nicht um eine 30-Tage-Kurztournee, wo man Frau und Kinder vertrösten kann und sagen kann, seid nicht traurig, ich bin ja in einem Monat wieder zuhause. Ich habe jetzt einen Vertrag über ein komplettes Jahr, mit einer Option auf ein zweites Jahr. Danach ist die Europa-Tournee von "Quidam" beendet, und die Produktion wandert weiter nach Asien oder Australien. Ob ich mich auf ein zweites Jahr einlasse, weiß ich jetzt noch nicht. Immerhin spielen wir pro Jahr etwa 400 Shows! Das ist eine mörderische Zahl, wenn man sich das mal klarmacht. Abgesehen davon sehnt man sich als Musiker natürlich irgendwann auch wieder danach, mal was anderes zu machen.

STICKS: Mal für Phil Collins spielen, oder sowas in dieser Richtung...

BJ: ...natürlich Ð also, wer würde das nicht machen! Für Phil Collins würde wohl jeder Drummer der Welt sofort alles stehen und liegen lassen. Das wäre ja ungefähr so, als wenn einen die Queen anruft und einem den Adelstitel anbietet. Wenn man wirklich von einem der größten Trommler der Geschichte gefragt wird, dann muß man nicht mehr lange über eine Antwort nachdenken. Obwohl, so einige Hardliner würden das vielleicht sogar verschmähen, weil sie bei Phil sagen, daß der "ja nur Popmusik" macht. Aber ich bekenne mich dazu, Pop-Drummer oder Rock-Schlagzeuger zu sein. Neben den vielen anderen Musikrichtungen, die ich höre, ist das halt der Bereich, in dem ich mich beruflich bewege. Es macht mir auf jeden Fall im Moment ungeheuren Spaß, mit diesen wirklich herausragend guten Musikern der Band von Cirque du Soleil auf einem Level zu stehen.

STICKS: Diese Show hier ist ja ein sehr komplexes Gebilde, wo man als Drummer in jeder Sekunde hochkonzentriert sein muß. Wieviel Zeit hattest du denn, um vor deinem ersten Einsatz bei "Quidam" das Repertoire proben zu können?

BJ: Die ehrliche Antwort lautet: neun Tage. Ich habe vorher nichts gehabt, ich kannte wirklich keine einzige Minute von der ganzen Show. Und dann neun Tage Zeit für ein knapp zweistündiges Programm, welches gespickt ist mit unterschiedlichsten Sounds und unendlich vielen verschiedenen Rhythmen oder Grooves. Insofern reden wir jetzt hier von neun Tagen mit 24 Stunden rund um die Uhr proben. An dem Tag vor meiner ersten Show habe ich das Gelände nachts überhaupt nicht mehr verlassen, habe also quasi 36 Stunden non stop durchgeprobt und mich durch diese wahnsinnig komplizierten Notenpartituren durchgearbeitet.

STICKS: Wahrscheinlich wird so eine Show aber doch nicht jeden Tag wie ein Uhrwerk auf die Millisekunde gleich ablaufen können...

BJ: ...die große Herausforderung beim Cirque du Soleil besteht darin, daß hier die Musik der Aktion der Artisten zu folgen hat Ð das ist meines Wissens nach einzigartig auf der Welt. Wir legen also keine Musik vor, auf welche die Artisten wie bei einem klassischen Musical ihre Choreographie abstimmen, sondern wir müssen uns mit der Musik nach der Choreographie der Artisten richten. Bei dieser Vorgehensweise kommt es täglich dazu, daß wir mit der Musik auf gewisse kleine Verzögerungen reagieren müssen. Es kann vorkommen, daß bei einer Darbietung irgendwas länger oder kürzer dauert, daß etwas wegfällt oder nochmal wiederholt wird. Insofern ist die Musik beim Cirque du Soleil dynamisch konzeptioniert. Jede choreographische Darbietung eines Artisten ist unterteilt in viele einzelne Elemente, kleine choreographische Einzelschritte. Diesen Einzelschritten ist jeweils eine entsprechende Musik zugeordnet. Diese Musik wiederum ist mit Cues versehen. Diese Cues werden von unserem musikalischen Leiter bei jeder Vorstellung entsprechend eingezählt: er beobachtet die Nummer, verfolgt genaustens die Darbietung der Artisten, kündigt uns dann über Kopfhörer den nächsten Cue mit Namen, Nummer oder Buchstaben an, und zum richtigen Zeitpunkt wird dann eingezählt. Wir haben Talkback untereinander auf der Bühne, und man muß sehr schnell reagieren und den richtigen Cue auf den Punkt genau anspielen. Dazu sollte man wissen, daß wir ungefähr 300 (!) solcher Cues innerhalb dieses Programms haben. Das alles dann noch zum Click, und das alles noch zum Sequencer.

STICKS: Wie läuft das denn technisch ab auf der Bühne, wie muß man sich das vorstellen?

BJ: Unsere beiden Keyboarder haben RPS Sequencer. Auf dem einen Keyboard wird gespielt, auf dem anderen befinden sich die Realtime Phrase Sequenzen, zugeordnet den einzelnen Tasten, und die triggern sich dann durch die einzelnen Programmierungen durch Ð da ist sehr viel Raum für Fehler denkbar. Aus diesem Grund waren auch diese neun Tage Probe vorher so mörderisch, weil ich nicht nur den rein musikalischen Ablauf beherrschen, sondern auch noch große Teile der artistischen Choreographie lernen mußte, um für alle Eventualitäten gewappnet zu sein. Um einfach vorweg ahnen zu können, daß jetzt gleich etwas Bestimmtes passiert. Bei einigen Nummern habe ich auch visuelle Cues, die ich mir selbst geben muß. Beispiel: die letzte Nummer sind Russen, die völlig ohne Geräte auskommen, die sich in ihrer akrobatischen Vorführung gegenseitig durch die Luft werfen. Die Phase, wo die Jungs durch die Luft fliegen, untermale ich mit Beckenwirbeln, mit Cymbal-Rolls. Bei der großen Menge von Aktionen, die diese Russen da machen, die nach einer genauen Choreographie aufgebaut ist, und auch im Hinblick auf die genaue Konzeption, wie die Musik vom Komponisten oder Arrangeur dazu konzeptioniert ist, muß ich halt wissen, daß die beispielsweise dort gerade eine bestimmte diagonale Linie bilden, daß dann der Erste einen anderen in die Luft wirft, der dann auf dem Zweiten landet, während die Ersten losrennen nach hinten, und nach insgesamt fünf Flügen landet der eine Artist dann wieder bei den Jungs ganz hinten. Bei den ersten vier Flügen muß im Grunde nur mein Becken zu hören sein, solange der Artist in der Luft ist. Beim letzten Mal landet er aber auf eine ganz bestimmte Art und Weise, und dann muß nochmal ein richtiger Abschlag auf dem Crash sowie eine Bassdrum dazugespielt werden Ð und das Ganze kommt dann exakt genau zu einer Sequenz vom Keyboarder, der dann parallel auch noch diesen Cue einzählt. Bei solchen Sachen ist die Reaktionszeit für alle Musiker teilweise extrem kurz. Man kann sich bei ãQuidam" keine Sekunde Schlaf oder Nachlässigkeit erlauben Ð diese Show ist einfach definitiv nicht mit dem Autopiloten im Blindflug zu spielen! Das geht nicht, es ist einfach nicht machbar. Man muß von der ersten bis zur letzten Sekunde der ganzen Show zu 150 % konzentriert sein und ganz genau beobachten, was gerade passiert. Wenn man auch nur eine Sekunde wegguckt, dann hat man unter Umständen seinen nächsten Cue verpasst.

STICKS: Bist du nicht an den Wochenenden, wo täglich zwei Shows stattfinden, anschließend komplett gebügelt und fix und fertig?

BJ: Klare Antwort: ja, ich bin komplett gebügelt. Aber unter Umständen gehen die Jungs von der Band dann spät abends noch in einen Club und machen eine Jam-Session. Und da bin ich dann auf jeden Fall dabei, weil ich Musiker bin und Musikmachen mehr als alles andere liebe! Weil es auch Spaß macht, und weil ich hier im Cirque du Soleil mit Musikern zusammenarbeiten darf, die so phantastisch gut, so inspirierend sind und auf solch einem hohen Niveau spielen, daß es Verschwendung wäre, nicht jede Gelegenheit zu ergreifen, mit diesen extrem guten Leuten nicht noch mehr Musik zu machen. Die Musik, die wir in der Show machen, ist ja komponiert und genau strukturiert. Wenn wir dann abends in irgendeinem Club jammen, lösen wir uns natürlich von diesem engen musikalisch Korsett, dort geben wir dann nach Herzenslust Gas. In der Show habe ich allerdings mehr Freiheiten entdeckt, als ich anfänglich vermutet hatte. Als ich ganz zu Beginn meines Engagements die Noten bekommen habe, war ich der Ansicht, daß hier ja wirklich jede kleinste Millisekunde ganz genau festgelegt ist und mir somit überhaupt kein Freiraum für eigene Grooves bleibt. Dann stellte ich jedoch fest, daß ich innerhalb dieses vorgegebenen Rahmens noch ziemlich viele Freiheiten habe, etwas so oder anders zu spielen. Ich muß beispielsweise irgendwie von Cue A nach Cue B kommen, dazwischen liegt ein bestimmter Rhythmus, den ich zu spielen habe. Doch dieser Rhythmus ist unter Umständen durchaus flexibel. Der muß natürlich einen ganz bestimmten Charakter haben, eine ganz spezielle Eigenart, aber innerhalb dieser von mir zu liefernden Eigenschaften habe ich gewisse Freiheiten. Wir haben musikalische Direktoren, die natürlich nicht jeden Tag anwesend sind; die kommen alle drei oder vier Monate mal für zwei Tage aus Montreal angereist und sehen nach, in welchem Zustand sich die Show befindet. Unser Musical Director Claude Chaput war gerade hier und hat mich angesehen und dann beide Daumen nach oben gezeigt, hat mir zu verstehen gegeben, daß es alles top ist und daß ich ruhig noch mehr Details so spielen soll, wie ich es für richtig halte.

STICKS: Das ist also quasi eine turnusmäßige TÜV-Abnahme.

BJ: Ja, genau, und wenn dann festgestellt werden sollte, daß irgendwelche wichtigen Sachen nicht in Ordnung sind, dann kriegt man eben keine Plakette mehr. Das ist mir aber gottseidank nicht passiert, wenngleich ich auch immer noch nicht nachvollziehen kann, warum die Wahl auf mich gefallen ist bei der Vergabe des Trommler-Jobs. Ich weiß aber mittlerweile, daß einige Leute mich wohl unbedingt haben wollten. Aus mir unerfindlichen Gründen hat beispielsweise gerade dieser Musical Director aus Montreal alles darangesetzt, mich für ãQuidam" zu bekommen. Wenngleich ich auch nicht weiß, warum das so war, danke ich ihm aus tiefstem Herzen dafür! Merci Claude! Jedenfalls ist dieser jeden Tag neu zu erstellende Mix aus exakt gleicher Perfektion und einer gewissen künstlerischen Freiheit in den Parts dazwischen, das ist etwas sehr Spannendes. Teilweise sind in den einzelnen Nummern so viele Cues, so viele Wechsel und Unterbrechungen, daß es außerordentlich schwer wird, dies alles dem Zuschauer als homogene Einheit darzubieten. Das Publikum muß den Eindruck gewinnen, daß die Musik und die Artistik wie aus einem Guß daherkommen. Die sollen das Gefühl haben, daß das alles so sein soll, daß das alles immer jeden Abend gleich ist. Gleichzeitig soll der Zuschauer aber auch wahrnehmen, daß es ja klasse ist, daß jede Landung eines Akrobaten punktgenau noch mit einem Knall vom Schlagzeug akustisch untermauert wird. Im Grunde gaukeln wir dem Publikum vor, daß die Artisten sich zu hundert Prozent an der Musik orientieren, was aber genau umgekehrt abläuft, weil wir mit der Band ja den Artisten im zeitlichen Ablauf folgen. Weil das aber so ist, ist mein Anspruch als Schlagzeuger, auch in diesen teilweise extrem kurzen Segmenten immer noch sowas wie einen speziellen Groove zu entwickeln. Seit ich hier bei ãQuidam" angefangen habe, bin ich ununterbrochen am experimentieren, ich will einfach immer noch wissen, was ich an dieser oder jener Stelle verändern kann, um hier oder dort noch den Groove zu verbessern. Wie kann man musikalisch vorgehen, um in allerkürzester Zeit zu grooven und dann doch wieder auf dem nächsten Cue-Punkt zu sein, das ist die interessante Frage. Der Keyboarder triggert Sequenzen, die sehr aufwendig programmiert sind, wo sehr viel passiert, die aber naturgemäß immer gleich sind. Ich bin als Drummer der einzige Musiker in der Band, der zwar einerseits zu diesen Sequenzen spielen muß, der aber andererseits die Möglichkeit hat, dem Ganzen noch eine gewisse Lebendigkeit zu verleihen. Der Gitarrist und der Saxophonist machen das natürlich auch, aber als Schlagzeuger bin ich einfach derjenige, der von der Charakteristik und von der gesamten Basis am nächsten an der Sequenz dran ist.

STICKS: Gibt es denn in der Band noch einen separaten Percussionisten?

BJ: Nein, die Percussion-Tracks sind fast alle programmiert, und auch das mußte ich im Lauf der Zeit erst alles rausfinden. Ich bin ja de facto in eine laufende Show eingestiegen, wo nur begrenzt Zeit war, mich vorab mit bestimmten Dingen auseinandersetzen zu können. Wo auch nur begrenzt Zeit war, bestimmte Dinge rauszufinden oder bestimmte Fragen zu stellen. Obwohl ich die Show ja inzwischen seit viereinhalb Monaten spiele, entdecke ich selbst heute noch mitunter neue Dinge, die ich bislang nich bemerkt habe, daß da ein Shaker im Hintergrund mitläuft, den ich bislang wegen eines anderen Monitor-Mix nie gehört habe oder sowas. Dann denke ich, oha, da läuft ja schon ein Shaker im Background, dann brauche ich mich ja garnicht so auf meine HiHat zu konzentrieren, dann kann ich mich ja in diesem Moment ein wenig zurücknehmen und mich mehr auf die visuelle Seite der Show konzentrieren. Ich bin ja sowieso kein Viel-Spieler, sondern eher ein Fan von reduziertem Drumming, stehe auf Leute wie Jeff Porcaro, bei denen weniger auch oft mehr war.

STICKS: Mußtest du dein Drumset beim Einstieg in den Cirque du Soleil an die Gegebenheiten in der Schlagzeugkabine auf der Bühne anpassen?

BJ: Im Grunde nicht, denn ich habe das Glück, mit einer phantastischen Firma aus Bad Berleburg zu arbeiten. Denen konnte ich vorher sagen, was genau ich brauche, und dann haben die mir ein sehr schönes Set dort hingestellt. Ich spiele ja ein akustisches Drumset, welches aber auch getriggert ist, und dazu gesellt sich noch ein ganzer Haufen verschiedenster elektronischer Geräte. Diese Elektronik mußte ich natürlich erstmal an meine physischen Bedürfnisse anpassen: wo ich den ganzen Kram hinstelle. Das größte Problem bei der Wachablösung in London mit meinem Vorgänger war einfach das, daß er eine sehr dezidierte Meinung dazu hatte, wieviel er noch dazu beitragen möchte, daß er dieses Kind in gute Hände abgibt. Nämlich eher wenig. Der hat sein Schlagzeug da mehr oder weniger rausgerissen, und dann hingen da Kabelenden rum und einige Mikros. Ich hatte zwei Toningenieure, mit denen ich dann eine beträchtliche Weile komplett auf dem Schlauch stand, wir uns am Kopf kratzten und uns die Frage stellten, wie das denn jetzt alles zueinander passen soll. Die Kabelenden waren natürlich alle sehr gut beschriftet, aber mein Vorgänger hatte irgendwann mal einen anderen Weg des Rootings für seine Line-Anschlüsse gefunden, hat die Kabel umgesteckt, aber leider nicht umgelabelt. Der wußte einfach, wenn man dieses Kabel mit dem falschen Label in die Klinkenbuchse mit dem falschen Label steckt, dann ist es genau richtig. Wenn so jemand dann aber kommentarlos seinen Abgang macht, dann habe ich natürlich als sein Nachfolger keine Chance, diese Kreuz-Knubbel-Schaltung jemals rauszufinden. Die Sound-Engineers haben sich mit mir zusammen Stunden und Tage dahintergeklemmt, um das alles zu entwirren und rauszufinden, welches Kabel an welchen Anschluß gehört. Kurzum, ich benutze halt noch sehr viel elektronisches Gelumpe, habe noch eine Masse von Sounds, die ich bei Bedarf abrufen muß, plus mein Drumset, plus die ganzen Trigger, plus den ganzen RPS-Kram vom Keyboarder. Die Show ist sehr techniklastig Ð vielleicht gehen wir ja auch deswegen anschließend so gerne jammen! Nach der Pflicht folgt dann die Kür, wenngleich die Pflicht auch sehr viel Spaß macht.

STICKS: Bis hierhin hast du ja eigentlich immer nur die optimale Situation beschrieben, wenn alles reibungslos funktioniert. Ist denn auch schon mal ein Gerät ausgefallen oder eine sonstige Panne vorgekommen, sodaß man dann von einer Sekunde zur nächsten improvisieren muß?

BJ: Es ist in jüngster Zeit einige Male passiert, daß der Click ausgefallen ist. Das hatte mit einem maroden Midi-Kabel zu tun. Bei den Kilometern von Kabeln, die bei dieser Produktion verlegt sind, war es nicht einfach, diese schadhafte Stelle ausfindig zu machen. Erstaunlicherweise ist die Band da nie ins Straucheln gekommen. Wir haben zwar geschwitzt wie die Schweine, aber wir kamen heil durch diese Situation durch. Der Click war aus unerfindlichen Gründen plötzlich auch wieder da. Neben zahllosen kleinen Möglichkeiten gibt es bei uns einige wenige große Möglichkeiten an potentiellen Fehlerquellen, und dazu zählt beispielsweise unsere Midi-Anlage, welche sehr aufwendig ist. Da kann es schon mal vorkommen, daß durch falsches Midi-Triggering so ein Midi-Overkill stattfindet und dann die gesamten Module plötzlich nicht mehr wissen, was sie machen sollen. Das ist gottseidank noch nicht passiert, seit ich in der Show mitspiele; ich weiß aber, daß das schon mal passiert sein soll. Mir wurde aber auch berichtet, daß selbst solche Ausfälle immer sehr schnell von den dafür zuständigen Leuten geregelt worden sind. Eine zweite Fehlerquelle besteht darin, daß bestimmte Sound plötzlich nicht ansprechen Ð aber wem ist sowas nicht schon passiert? Da muß man dann in dem Moment einfach mit leben. Eine weitere denkbare Fehlerquelle ist die, daß man sich ganz simpel verspielt. Das passiert bei uns aber glücklicherweise nur ganz selten, denn die Musiker in der Band sind dafür einfach zu gut. Unsere beiden Keyboarder haben jedoch den größten Streß, wenn sie sich in der Taste vergreifen und dadurch eine ganz falsche Bank mit RPS-Triggern in Gang setzen. Pro Bank gibt es ja dort etwa 30 RPS-Trigger für die einzelnen Cue-Segmente pro Nummer. Wenn die also die falsche Taste erwischen und nur eine Taste danebendrücken, dann läuft die ganze Nummer plötzlich total falsch weiter. Und sowas kam schon vor, aber dann siehst du mal sieben Mann rudern wie die Bekloppten! Das ist echt prickelnd, da kommt dann wirklich Spannung auf!

STICKS: Wann ist sowas denn zum letzten Mal passiert?

BJ: Erst gestern! Es gibt mehrere Nummern in diesem Programm, die wir in zwei Versionen spielen können: einmal die Standard-Version und dann noch die Imperial-Royal-Version. Wir hatten gestern Abend den belgischen Prinzen zu Besuch, und dann war natürlich klar, daß wir die ganz dicke Schiene fahren und die Imperial-Versionen spielen. Die letzte Nummer ist sehr aufwendig und sehr komplex. Unser Keyboarder hat dann angekündigt, daß es die Royal-Version ist, hat dann aber an der entscheidenden Stelle, wo sich die normale von der Royal-Version unterscheidet, die normale Version angetriggert. Da müßte dann normalerweise die Musik sehr kraftvoll weitergehen, die hört in der normalen Version aber an dieser Stelle auf, und dann läuft nur noch so ein leichtes Pad mit ein wenig Percussion dazu weiter. Interessanterweise war auch gestern Abend der Komponist von ãQuidam" in der Show Ð und selbst er hat diesen Fehler nicht bemerkt, selbst ihm ist nicht aufgefallen, daß wir an der besagten Stelle diese Panne hatten und von Autopilot auf manuelle Steuerung umgeschaltet haben. Durch Zufall deckte sich das, weil die Choreographie der Artisten an dieser Stelle einmal kurz anhält, und genau in diesem Moment ist das passiert. Der Keyboarder hat uns dann gerettet, indem er noch in der gleichen Sekunde die Ansage für einen anderen Cue über Talkback gegeben hat, sodaß wir sofort wieder an einer anderen Stelle ins Thema der Nummer einsteigen konnten. Dieses Loch, was da entstanden ist, hat sich echt mit der ruhigen Phase in der Choreographie so überdeckt, daß kein Mensch was davon gemerkt hat. Der Komponist kam anschließend zu uns und beglückwünschte uns, weil wir ja so eine perfekte Show gespielt hätten, er fand das alles ganz toll und war hoch zufrieden mit unserer Performance. Es gibt natürlich auch einige Visual Cues, die man versägen kann. Diesbezüglich bin ich eigentlich der größte Unsicherheitsfaktor, denn es gibt einfach viele Sounds, die ich erzeugen muß, von Regen über Gewitter bis hin zu irgendwelchen anderen unbeschreiblichen Geräuschen, die aber ganz bestimmten Ereignissen im Bühnengeschehen zugeordnet sind. Und bei diesen Sachen habe ich anfänglich sehr geschwitzt und gelitten: man guckt nach vorne und sieht eine bestimmte Aktion auf der Bühne, dann fragt man sich als Neuling, was muß ich dazu jetzt nochmal machen? Dann fällt einem ein, daß man da einen Gong spielen muß. Man guckt nach links und sieht ein Überangebot an Pads, und dann schießt einem die Frage durchÕs Hirn: wo war zum Teufel nochmal der Gong? Dann sieht man darüber noch die Patch-Nummer und ist sich plötzlich nicht mehr sicher, ob man jetzt überhaupt noch im richtigen Patch für den Gong ist. Der Gong könnte auf diesem Pad sein, aber ich weiß nicht, ob die Nummer stimmt. Dann nimmt man im gleichen Sekundenbruchteil seinen Mut zusammen und haut auf dieses Pad, und dann passierte es mir am Anfang gelegentlich, daß die Show plötzlich ungeahnte bizarre Elemente bekam, weil mitten aus der Galaxis heraus auf einmal ein total unerwarteter Sound zu hören war.

STICKS: Gibt es in der Band so eine Regelung, daß man bei solchen Fehlern einen Obulus in die Strafkasse entrichten muß?

BJ: Nein, bei uns ist oberstes Gebot, daß solche Dinge sofort nach der Show angesprochen werden, jeder Sound, der nicht stimmte, jeder Cue, der nicht passte, jeder Fehler zieht die unverzügliche Rückmeldung der anderen Bandmitglieder nach sich. Das muß noch nicht mal unbedingt mit Kritik verbunden sein. Es reicht unter Umständen schon, daß der Toningenieur zu mir kommt und mich fragt, ob ich diesen Sound getriggert habe oder nicht. Der versucht einfach nur herauszubekommen, ob der Fehler jetzt bei mir oder bei ihm gelegen hat. Dadurch wird dir aber immer wieder bewußt, daß man dich sehr genau beobachtet, weil eben andere Leute davon abhängen, was du tust. Ich muß bestimmte Sounds erzeugen, die wiederum Cues für die Artisten sind. An anderen Stellen ist das, was der Artist macht, ein optischer Cue für mich. An wieder anderen Stellen ist der Sound, den ich mache, der Cue für den Front-of-house-Mann, der daraufhin wieder ein Sample abruft für einen weiteren Sound. Und weil diese Verkettung reibungslos ablaufen muß, kommt dann halt hinterher irgendjemand zu mir und fragt, was war an dieser Stelle los, woran hat es gelegen. Sowas passiert bei der kleinsten Kleinigkeit. Bis ich bei all diesen winzigen Cues perfekt war, hat es etwa drei Monate gedauert. Es ist natürlich nie so, daß man dir sagt, du bist nicht gut. Aber du bekommst jeden Tag aufÕs Neue zu spüren, daß der Standard Perfektionismus ist, daß das Minimum 150 % sind, und drunter wird hier nicht gearbeitet. Man sagt dir dann, daß dies oder jenes nicht akzeptabel ist, daß man dafür eine Lösung finden muß, denn hier wird gefälligst nicht geschludert. Wobei ich diese Meinung absolut teile, denn das Publikum ist jeden Tag ein anderes, die haben alle den gleichen hohen Eintrittspreis bezahlt und somit ein Anrecht darauf, eine perfekte Show geliefert zu kriegen.

STICKS: Schmeißt man sich bei einer solch enormen Belastung nicht irgendwann Valium in den Kaffee?

BJ: Nein, Valium war nie ein Thema für mich. Aber ich gebe zu, daß gerade in den ersten Wochen bei mir der Streßpegel so hoch war, daß ich oft dachte, Junge, das hältst du auf Dauer nicht durch, der Anspruch ist einfach zu hoch.

STICKS: Wie hast du dich in solchen Momenten wieder motivieren können?

BJ: Ich beobachte seit langer Zeit, daß die deutschen Musiker dazu neigen, englische oder amerikanische Musiker auf einen goldenen Sockel zu heben und zu sagen ãdas sind echte Profis, die könnenÕs aber richtig gut!" Wenn ich sowas hörte, habe ich immer die Fresse aufgerissen und gesagt ãdas kann ich auch, das ist durchaus machbar!" Tja, und dann habe ich eines schönen Tages hier bei Cirque du Soleil angefangen, und das ist ja vom Niveau her amerikanisches Showbusiness, das hat mit deutschem Showbusiness überhaupt nichts mehr zu tun. Und ich mußte feststellen, daß der Standard verdammt viel höher ist, daß von einem Musiker weitaus mehr verlangt wird. Und ich hatte gerade am Anfang zwei- oder dreimal das Gefühl, daß ich die Fresse wohl ein wenig zu weit aufgerissen habe, daß ich es einfach nicht packe, weil einfach zuviel Perfektion verlangt wird. Umso größer ist dann natürlich die Befriedigung, wenn man irgendwann feststellt, daß die Kritik nachläßt, daß die Akzeptanz deiner Leistung steigt und daß das Ansprechen irgendwelcher Fehler auch seltener wird. Es tut einfach sehr gut, zu spüren, daß man es doch schafft, daß es doch funktioniert und man den Anforderungen doch gerecht wird. Es ist ja nicht nur die musikalische Leistung, die von einem erwartet wird. Gerade in der Anfangszeit muß man sich ja auch erstmal an dieses Tourleben gewöhnen: man lebt ja hier mit etwa 150 Menschen zusammen, mit denen man tagein, tagaus klarkommen muß. Man muß Namen behalten, man muß wissen, wer wofür zuständig ist, man muß sogar 150 verschiedene Arten, sich die Hand zu geben, behalten, weil auf solche Umgangsformen sehr großer Wert gelegt wird. Man muß neben dem, was einen als Musiker oder Künstler in der Show betrifft, auch noch sehr viele andere Dinge behalten: wann kann ich da rein und spielen, wann kann ich da nicht rein und nicht spielen, wo muß ich hin, wenn ich neue Felle brauche, wen muß ich ansprechen, wenn mir die Hose vom Kostüm reißen sollte Ð man muß sich am Anfang unendlich durchfragen. Dann kommt das Artistic Department zu dir und sagt, bis dann und dann mußt du die Show perfekt beherrschen. Dann stellst du fest, daß es ja nur neun Tage sind. Dann weiß man natürlich insgeheim, daß man es in dieser kurzen Zeit nie perfekt packen wird, also überlegt man sich irgendeine Strategie, wie man so gut pfuschen kann, daß es trotz 24 Stunden üben pro Tag erstmal einigermaßen gut klingt. Dann kommt das Merchandising Department, das Presse Department, das Kostüm Department, das Human Resources Department, man muß tausend Formulare ausfüllen für die amerikanische Krankenversicherung, man muß Interviews geben für deutsche Zeitschriften, weil gerade der Aufenthalt in Deutschland vorbereitet wird, es muß maßgenommen werden für das Kostüm Ð kurzum, es stürmen unendlich viele Leute auf dich ein, und alle diese Leute haben auf ihre Art immer Priorität. Es war in der ersten Zeit wirklich alles andere als witzig. Doch jetzt, nachdem man sich an all das gewöhnt hat, ist es total witzig, es macht einfach nur noch riesengroßen Spaß. Weißt du, wenn du das hier alles bewältigst und irgendwann packst, dann packst du auch alles andere. Wenn du diese Show gespielt hast, kannst du jede Show spielen. Außerdem gebe ich zu, daß mir diese riesige Familie echt ans Herz gewachsen ist, das sind alles wirklich phantastisch tolle Menschen, bei Cirque du Soleil hält man total zusammen, hier ist man sehr herzlich, und der Respekt voreinander ist außerordentlich groß. Das gemeinsame Ziel, eine perfekte Show hinzulegen, und nicht müde zu werden, sich jeden Tag aufÕs Neue dafür zu motivieren, das ist hier gegeben. Und all das macht mich als Musiker und als Mensch sehr zufrieden und glücklich.

STICKS: Wie sah denn deine musikalische Karriere vor der Zeit bei Cirque du Soleil aus?

BJ: Die allerersten Anfänge meiner Trommelei fanden im Alter von sieben Jahren statt. Meine Mutter hat Musik studiert und mich folglich irgendwann bei einer musikalischen Früherziehung angemeldet. Als es dann darum ging, daß man in dieser Früherziehung auch ein Instrument lernen könne, schrien meine Kumpels alle ãBlockflöte", nur ich schrie ãSchlagzeug!". Das ist bis heute ein ungeklärtes Phänomen, denn es gab vorher kein spezielles Erlebnis, welches mich dazu gebracht haben könnte, es gab weder ein Vorbild in der Verwandtschaft oder sonstwas Ð ich wollte einfach Schlagzeug lernen. Jedenfalls habe ich diesen Entschluß mittags mit strahlendem Gesicht meiner Mutter kundgetan, die das mit einem außerordentlich kurzen Seufzer quittiert hat Ð und das war der letzte Seufzer, den ich von ihr diesbezüglich je hörte Ð und ein paar Wochen später begann mein Schlagzeugunterricht. Ich habe dann dort klassisches Schlagzeug gelernt, mit Pauken und Mallets und Xylophon und dem ganzen Krempel, der dazu gehörte. Habe nach der Agostini-Schule gelernt. Ich stehe übrigens immer noch total auf die Agostini-Schule und will den ganzen heutigen Schlagzeug-Autoren mal eine ganz klare Ansage machen: den ganzen Kack, den ihr da heute in euren Büchern aufwärmt, das hat der Agostini schon alles in den Fünfzigern viel besser aufgeschrieben!!! Das ist meiner Meinung nach immer noch gut, und da steht immer noch sehr viel mehr drin in diesen Agostini-Schulen als in den heute veröffentlichten Schlagzeugschulen. So, das mußte ich wirklich mal loswerden. Jedenfalls habe ich dann tagsüber diese Sachen gelernt und dann die erworbenen Kenntnisse zuhause dahingehend umgesetzt, daß ich die Kinderlieder aus der Sesamstrasse damit gespielt habe. Mit einem guten Kumpel, der über Gitarrespielen ungefähr soviel wußte wie ich über Schlagzeugspielen, habe ich dann meine erste Band gegründet. Unsere erste Probe bestand aus einem vierstündigen Loop der ersten Takte von ãSunday, Bloody Sunday" von U2. Das war die Basis: er konnte es und ich konnte es, und es hat totalen Spaß gemacht, vier Stunden lang immer das gleiche Riff zu spielen. So mit 14 oder 15 kamen dann die ersten und zweiten und dritten Bands, mit denen ich von New Wave über Rock bis hin zu Pop alles gespielt habe. Als ich 17 wurde, habe ich das Schlagzeug für ein komplettes Jahr nicht mehr angerührt. Meine gesamte Umgebung machte sich schon mit dem Gedanken vertraut, daß es das wohl gewesen ist bei mir mit der Trommelei, doch als ich dann zum 18. Geburtstag von meiner Familie und von meiner Tante einen relativ großen Geldbetrag geschenkt bekam, bin ich noch am gleichen Tag ins Musikgeschäft gerannt und habe mir ein neues Schlagzeug gekauft. Und das auch wieder ohne erkennbaren Grund, genauso wie ich ohne erkennbaren Grund vorher ein Jahr lang nicht eine Sekunde getrommelt hatte. Das Feuer in mir war einfach plötzlich wieder da, und so kaufte ich mir dieses Sonor Hilite, welches ich bis heute besitze und immer noch heiß und innig liebe. Nach dem Abitur habe ich mir dann überlegt, ob ich jetzt Profi-Musiker werden soll oder nicht. Dann fiel mir ein Zitat von Rainer Maria Rilke aus seinem Buch ãBriefe an einen jungen Poeten" ein, wo ein junger Mann den Rilke in einem Brief fragt, was er denn machen müsse, um Schriftsteller zu werden. Da schreibt Rilke ihm zurück und sagt ãwenn du morgens aufwachst und ans Schreiben denkst, und wenn du den ganzen Tag mit diesem Wunsch verbringst, und wenn du abends beim Zubettgehen als letztes ans Schreiben denkst, dann bist du Schriftsteller". Ich vermute, daß war bei mir mit dem Schlagzeug ähnlich, insofern kann ich in Anlehnung an Rilke sagen, daß ich nie Schlagzeuger werden wollte, sondern daß ich einfach Schlagzeuger bin. So einfach ist das. Das geht dann allerdings einher mit den gesamten Höhen und Tiefen der Determiniertheit des menschlichen Seins. Das bedeutet natürlich, daß ich zu diesem Faktum, Schlagzeuger zu sein, eine gewisse Haßliebe entwickelt. Es ist eine sehr emotionale Bindung, ich zum Schlagzeug habe, und selbst wenn ich es wollte, käme ich aus dieser Bindung nicht raus. Ich glaube, daß die Leidenschaft, die mich all die Jahre über am Schlagzeug gehalten hat, daß die mich jetzt zu einem gefragten Musiker macht. Ich hoffe inständig, daß es mir jetzt allmählich gelingt, diese Leidenschaft auch in mein Instrument zu transportieren. Über die Jahre habe ich halt mit den verschiedensten Bands gespielt, von Rock Ôn Roll und Jazz oder Alternative über Brachial Metal bis hin zu Pop oder New Wave, habe ein paar Platten aufgenommen und einige Werbespots getrommelt. Im vergangenen Jahr habe ich einige Sachen gemacht mit V. Lenz, den man eventuell aus der etwas härteren Crossover-Ecke kennt. Das ist ein völlig durchgeknallter Kerl, irgendwie nicht von dieser Welt, aber auch ein gigantisch guter Musiker. Danach habe ich dann eine Weile bei Flic Flac gespielt, und nun bin ich halt bei Cirque du Soleil gelandet.

STICKS: Welche Pläne hast du denn für die Zukunft, wenn man von deinem Engagement im Sonnenzirkus mal absieht?

BJ: Ich hätte große Lust, an speziellen Veranstaltungen teilzunehmen, wo der Nachwuchs gefördert wird. Diesen jungen Trommlern muß mal jemand aus der Sicht des working drummers erklären, auf was es in diesem Beruf wirklich ankommt. Daß es nicht nur darum geht, sich ein Video von Dave Weckl, Terry Bozzio oder Simon Phillips zu kaufen oder so schnell spielen zu können wie Virgil Donati, sondern daß man als arbeitender Schlagzeuger die ganze Palette beherrschen muß, daß man jede Art von Musik begleiten können muß, daß es dabei auf hohe Qualität ankommt und so weiter. Ich bin mir sicher, wenn ich mit einigen Tapes zu so einem Workshop gehe und den Jungs erkläre: so, wir stellen uns jetzt mal eine typische Studio-Situation vor, hier sind die Mastertapes, und jetzt kommt ihr mal der Reihe nach auf die Bühne und spielt dazu Ð dann gibt es aber ganz lange Gesichter, dann klappt den Jungs der Unterkiefer aber verdammt tief runter. Es geht mir dabei aber beileibe nicht darum, die Leute zu desillusionieren. Nein, es geht darum, denen klarzumachen, was es bedeutet, den Job eines Schlagzeuger mit Leib und Seele auszufüllen, und welche Anforderungen in der täglichen Berufspraxis auf die Leute warten.

STICKS: Hast du denn solche Clinics schon gemacht?

BJ: Nein, bisher noch nicht. Aber ich würde das gerne mal machen, aber nicht so, wie die meisten Clinics ablaufen, nicht so, wie die Leute das gewöhnt sind: da kommt irgendein Trommler auf die Bühne und zeigt mal kurz, was er alles so drauf hat. Ich würde gerne die etwas andere Art von Drumclinics machen, die etwas andere Art des Schlagzeugens und des Musikerseins promoten, um so den Leuten auch die Möglichkeit zu eröffnen, einmal hinter die Kulissen eines hart arbeitenden Drummers zu schauen. Eines zwar erfolgreichen Musikers, der sich aber nichtsdestotrotz tagtäglich mit den Anforderungen seines Jobs auseinandersetzen muß. Es geht ja bei mir nicht jeden Tag darum, wie ich mein Schlagzeugspiel perfektioniere, sondern es geht weitaus mehr darum, wie ich das dann in die Show reinkriege, wie ich es dafür passend machen kann. Dieses Gesamtpaket muß ich in acht Shows pro Woche im Cirque du Soleil verkaufen, und wenn mir das nicht mehr gelingt, bin ich meinen Job schneller wieder los, als mir lieb ist. Von einem Drummer wird immer auch erwartet, daß er zuerst Musiker und danach erst Schlagzeuger ist. Solche Clinics würde ich wirklich sehr gerne mal anbieten. Genauso gerne würde ich aber auch mal wieder einige Tourneen mit einigen guten deutschen Acts machen, beispielsweise halte ich Sasha für jemand, der ein großes Potential hat und noch seinen Weg machen wird. Es gibt auch in Spanien einige Bands, die mich interessieren. Andererseits ist geplant, in ein oder zwei Jahren eine Produktion von Cirque du Soleil fest in London zu installieren, und da würde es mich auch reizen, mich noch mehr mit einzubringen und vielleicht noch stärker bei der Konzeption dieser Show mitzuarbeiten. Ich kriege schon einige Anfragen, denn offenbar scheint Cirque du Soleil für mich die ultimative Referenz zu sein. Dann habe ich noch vor, ein Schlagzeug-Buch zu schreiben, was sich aber von den bestehenden Schulen schon alleine dadurch unterscheidet, daß keine einzige Note darin zu finden sein wird.

STICKS: Und dann hast du ja noch ein Faible für das Trommeln ohne Trommeln...

BJ: ...Ja: AIR-DRUMMER ALLER LÄNDER VEREINIGT EUCH! Ich habe jetzt im Internet die Domain www.airdrumming.de eingerichtet, das ist das Pendant zu den Luftgitarre-Spielern. Ich möchte den Lufttrommlern dieser Erde endlich ein verdientes Forum geben! Das fiel mir auf, als ich eines Tages mal durchs Internet gesurft bin: ich dachte, wo es doch schon eine Seite für Airguitar gibt, da wird es doch Zeit, auch mal eine entsprechende Webpage für Airdrumming einzurichten. Es hat mich sowieso gewundert, daß da bisher noch niemand anderes drauf gekommen ist. In meiner Freizeit bastle ich mir gerade die entsprechende Homepage im Internet zusammen und bin schon ziemlich gespannt, wer sich denn letztlich alles dazu bekennen wird. Es geht dabei natürlich in erster Linie um den Spaßfaktor, denn die meisten Leute besitzen ja ein rhythmisches Gefühl, ohne direkt als Drummer in Erscheinung zu treten. Man sieht diese Leute dann im Auto sitzen, das Radio voll aufgedreht, und in Ermangelung eines richtigen Drumsets trommeln sie dann den Takt auf das Lenkrad. Die Zielgruppe für eine solche Homepage dürfte also riesengroß sein, und es wurde Zeit, daß für diese Air-Drummer mal ein entsprechendes Internet-Forum geschaffen wurde. Ich könnte mir auch gut vorstellen, daß ich bei diesen Drummer-Meetings mal auftrete, wo sich diese Wahnsinnigen volle zwei Tage in einem Saal verbarrikadieren, um sich einen Trommler nach dem anderen reinzuziehen. Da würde ich gerne mal mit einem vorher im Studio aufgenommenen Schlagzeug-Solo auf die Bühne zu gehen und zu diesem Tape reines Air-Drumming vorzuführen Ð um den Leuten mal klarzumachen, daß sie sich nicht immer so bierernst nehmen sollen. Ein professioneller Drummer hat zwar in der Regel einen harten Job, aber man soll das doch trotzdem nicht alles immer so verbissen sehen, es geht doch bei allem immer noch um Spaß! Das wäre bestimmt ein riesiger Skandal, wenn da so ein Typ ankommt, sich auf die Bühne setzt und die Leute in dieser Form verarscht, weil er ja nur in der Luft rumfuchtelt. Doch das Statement, was man mit so einer Aktion rüberbringen könnte, wäre sicherlich sehr wichtig und wertvoll für dieses Publikum. Das ist jetzt kein konkreter Plan, aber ich wäre durchaus bekloppt genug, um sowas mal durchzuziehen. Ich würde auch eiskalt Leute wie den von mir sehr geschätzten Simon Phillips anrufen und ihn fragen, ob er nicht Lust hat, bei so einer Sache mitzumachen. Solchen Leuten wie ihm traue ich ehrlich gesagt soviel Humor zu, daß sie das gut finden und mitmachen. Ich bin mir sicher, daß gerade solche Leute, die es als Schlagzeuger einfach bis in den Olymp geschafft haben, sowas viel relaxter und entspannter sehen.

Fotos: www.BrunoKassel.de
Interview: Brunaxel Kasselajczak

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